22.11.2012

Circa, Narrative.ly und Matter – drei radikal neue journalistische Ansätze

Die Zeitungskrise erreicht Deutschland. Die Frankfurter Rundschau liegt in den letzten Zügen, die Financial Times Deutschland kämpft ums Überleben. Zwei Beispiele, die zeigen, dass traditionelle Journalismusformate massiv unter Druck geraten. Bleibt die Frage, ob wir es mit Auflösungserscheinungen des Journalismus zu tun haben – oder mit einer tief greifenden Transformation? Ulrike Langer ist Medien- beziehungsweise Netzexpertin, lebt in den USA und betreibt das Blog MedialDigital. Heute stellt sie drei neue journalistische Ansätze vor, die eines belegen könnten: Der Journalismus ist nicht tot, er wird in Zukunft nur ganz anders aussehen.

Der amerikanischen Medienvordenker Jeff Jarvis vergleicht in seinem frisch auf Deutsch erschienenen Buch „Mehr Transparenz wagen“ die momentane Entwicklungsstufe des Journalismus im Internet mit den ersten Jahren nach Erfindung des Buchdrucks. Damals ähnelten die druckfrischen Bücher noch handgeschriebenen Bänden. Auch Autos sahen zunächst aus wie Kutschen, bevor sie ein eigenständiges Design passend zu ihrer Funktionalität entwickelten. Und heute sind viele journalistische Webportale noch immer nicht viel mehr als digitale Abbildungen von Zeitungen. Mit den üblichen printbedingten Limitierungen: keine fortlaufenden Aktualisierungen, kaum Links zu weiterführenden Quellen, kein Rückkanal auf Augenhöhe für konstruktive Kritik und keine Rücksicht darauf, dass manche Nutzer mehr Zeit oder Vorkenntnisse haben als andere. Und noch immer ist die häufigste journalistische Darstellungsform ein linear erzählter mittellanger Bericht – die digitale Entsprechung des Zeitungsartikels.

Mit Live-Blogs und Erzählsträngen, die mittels Tools wie Storify aus eingebetteten Originalquellen bestehen, hat sich das journalistische Erzählen im Web inzwischen ein erhebliches Stück von seinem analogen Pendant entfernt. Aber wie könnte digitaler Journalismus aussehen, wenn man ihn radikal seiner analogen Konventionen beraubt und völlig neu denkt? Darüber hat sich ein Team um Ben Huh, Chef des humoristischen Cheezburger Networks, und David Cohn, Gründer der Crowdfunding-Plattform Spot.Us, ein Jahr lang Gedanken gemacht. Dabei herausgekommen ist im Oktober 2012 Circa – eine Mobil-App, die die journalistische Grundform des Artikels sozusagen atomisiert.

Ein zwölfköpfiges Autorenteam scannt für Circa die Nachrichtenlage und bricht Informationen in kleinste Bestandteile herunter. Artikel im klassischen Sinn verfassen sie nicht. „Nachrichtenbeiträge im Netz zu lesen ist grauenhaft“, sagt Ben Huh. „Nach den ersten drei Absätzen mit den Neuigkeiten kaut der Rest eines Artikels nur wieder, was ich in den letzten 24 Stunden schon neunmal gelesen habe.“ Circa dagegen schickt seinen Nutzern Updates, wenn es etwas Neues zu einem Thema gibt (neue Aussagen, neue Fakten, neue Bilder), ohne das bereits Gelesene erneut anzuzeigen. Ab welchem Neuigkeitswert sie benachrichtigt werden wollen, können Nutzer selbst einstellen.

Circa entfaltet seine Stärken bei aktuellen Nachrichtenthemen, den „breaking news“. Für Reportagen und Essays ist die App dagegen ungeeignet. Denn dabei kommt es nicht auf minutenschnelle Aktualisierungen an, sondern sie entfalten ihre Stärken erst über dramaturgische Spannungsbögen und ein möglichst ungestörtes Leseerlebnis. Mit der Frage, wie man solche journalistischen Langformen im Netz zeitgemäß aufbereiten kann, befassen sich zwei weitere journalistische Start-ups. Die beiden freien Journalisten Bobbie Johnson (Europa-Korrespondent der Technologie-Website GigaOm) und Jim Giles (Economist, The Atlantic, New Scientist) wollen mit ihrer Plattform Matter den Beweis antreten, dass sich Journalismus im Internet keineswegs auf kurze und schnell verdauliche Informationshäppchen beschränken muss und kostenlos angeboten werden muss. Ihre Vision beschreiben Johnson und Giles auf der Crowdfunding-Plattform Kickstarter wie folgt: „Matter wird sich nur auf eine einzige Sache konzentrieren, das aber herausragend gut: Jede Woche werden wir eine sehr ausführliche Geschichte, einen langen Essay oder eine große Reportage zu einem bedeutsamen Thema aus Technik und Wissenschaft veröffentlichen. Das bedeutet: keine Kurzkritiken, keine aus der Hüfte geschossenen Kommentare, keine Top-Ten-Listen. Nur eine einzige Geschichte, die man unbedingt gelesen haben muss.“

Mit ihrer journalistischen Haltung scheinen die beiden Gründer richtig zu liegen, denn das nötige Startkapital von 50.000 Dollar konnten sie über Kickstarter schon in anderthalb Tagen einsammeln. Die erste bei Matter veröffentlichte Geschichte des renommierten Wissenschaftsautors Anil Ananthaswamy über Menschen mit bizarren Amputationswünschen wurde Mitte November für einen Dollar zum Kauf angeboten.

Auch Noah Rosenberg hatte offenbar den richtigen Riecher, als er nach einer erfolgreichen Kickstarter-Kampagne im September das Webportal narrative.ly startete. Narrative.ly veröffentlicht ebenfalls nur wenige, dafür aber in die Tiefe gehende Reportagen, die zudem eine weitere Bedingung erfüllen müssen: Ihr Schauplatz ist ausschließlich New York. Sind Plattformen wie circa, Matter und narrative.ly nun der Todesstoß für konventionelle mittelange journalistische Berichte im Netz? Das sicherlich nicht. Aber sie erbringen, so unterschiedlich sie auch sind, den Beweis, dass Online-Journalismus keineswegs aussehen muss wie eine ins Netz gekippte Zeitung.

weiterführende Links:

Jeff Jarvis: The article as luxury or byproduct

Ben Huh: Why Are We Still Consuming News Like It’s 1899? 

David Cohn: So How is Circa Different From Writing Articles? 

Ulrike Langer

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