18.03.2013

NZZ-Multimedia-Reportage: Muster ohne (Mehr-)Wert

Die NZZ hat eine opulente Multimedia-Reportage zu zwei Jahren Fukushima produziert. Das ambitionierte Ensemble aus Bildern, Videos, Karten und Animationen ist schön anzuschauen, leider aber unzureichend erklärt. Ohne Kontext nutzt das größte Multimedia-Feuerwerk wenig.

Keine Zeit für Wut - NZZ zu Fukushima

Screenshot von der Startseite der NZZ-Multimedia-Reportage „Keine Zeit für Wut“

In den vergangenen Tagen hat mich das Fukushima-Special „Keine Zeit für Wut“ der Neuen Zürcher Zeitung auf vielen Tweets gefunden – es muss also wichtig sein. Die meisten Tweets waren voll des Lobes und machten mich neugierig, mal einen genaueren Blick auf das Werk zu werfen. Die Idee: Das NZZ-Team besuchte die gleichen vier Betroffenen, die es unmittelbar nach der Atomkatastrophe im März 2011 besucht hatte, und zeigt auf, wie sich das Leben der Familie Ara, einer Lehrerin, eines Taxifahrers und eines Bauern in diesen zwei Jahren verändert hat. Keine ganz neue Idee, aber sehr aufwendig recherchiert.

Die gedruckte NZZ veröffentlichte am 8. März 2013 eine Doppelseite (22.000 Zeichen) von „Keine Zeit für Wut“ im Ausland-Ressort, was das Maximum für die Zeitung darstellt. Im Web ging am gleichen Tag die Multimedia-Reportage online, in der vollen 55.000 Zeichen-Version, verteilt auf vier Kapitel mit vier Protagonisten.

Jedes dieser Kapitel ist auch mit massig multimedialem Material angereichert. Der Mehrwert ist leider oft sehr gering, das ist das große Manko an der Reportage. Mir sind folgende Kritikpunkte aufgefallen:

  1. Die Bildunterschriften sind arg spartanisch ausgefallen, sie beschreiben nur, was das Bild zeigt bzw. wo es aufgenommen wurde, zum Beispiel: „Vieh auf dem Bauernhof von Masami Yoshizawa“. Ein weiterführender Satz, der das Bild in einen Kontext stellt und aufzeigt, was es bedeutet bzw. warum es relevant ist, fehlt.
  2. Beim Porträt der Familie Ara ist eine 10-teilige Bildergalerie eingebunden, hier gibt es gar keine Bildunterschriften, ergo auch keinen Kontext. Noch nicht mal unter dem Startbild der Bildergalerie steht, dass es sich um eine Fotoserie handelt. Das muss man sich anhand des Serienbild-Icons selbst erschließen.
  3. Zum Abschluss eines jeden Kapitels gibt es großformatiges Bild, das ebenfalls ohne Bildunterschrift leben muss. Dann kann man es auch gleich ganz lassen.
  4. Es gibt bei jedem Kapitel ein Videointerview, erkenntlich nur durch einen Play-Knopf, wieder nur minimalst beschriftet: „Osamo Satu, pensionierter Taxifahrer“. Was sagt denn dieser Taxifahrer? Gibt es nicht ein prägnantes Zitat, das mir als Nutzer signalisiert, ob es sich lohnt, das Video anzuklicken? Wo ist der Mehrwert bei einem Video mit einer einzigen Einstellung, das außerdem durch Voice-over noch an Authentizität verliert? Auch hier fehlt ein starkes Zitat als Videounterschrift.
  5. Die Anordnung der Mehrwert-Elemente erscheint willkürlich, speziell bei den Bildern: mal rechts vom Text, mal links vom Text, mal im Text, mal darunter. Manche Bilder sind an einer festen Stelle in den Text eingebunden, andere rutschen neben dem Text mit nach unten, wenn man nach unten scrollt.
  6. Es gibt zwei bildschirmfüllende Grafiken: Bei der Grafik „Evakuierte Personen“ gibt es zwar eine kleine Beschreibung, die aber überhaupt nicht erklärt, wie die Grafik zu verstehen ist. Die Balkenfarben Rot und Blau entsprechen in ihren Proportionen nicht den zugehörigen Zahlen; es ist unklar, ob die Werte für die Jahre 2011 und 2012 kumuliert sind oder nicht. Hier wäre einfach eine aufschlussreiche Legende gefragt gewesen. Die andere Mega-Grafik ist animiert, sie zeigt die Strahlenbelastung in verschiedenen Orten um Fukushima in Millisievert an und gibt ein paar Vergleichswerte. Das ist das anschaulichste Multimedia-Element in dem ganzen Special.
  7. Eine weitere Grafik im Kapitel „Taxifahrer“ zeigt eine weitere Grafik zu den Evakuierungszonen, genauer gesagt, wann welches Gebiet welchen Gefährdungsstatus hatte. Das erinnert sehr an die andere Evakuierungsgrafik mit den absoluten Zahlen.

An der Produktion dieser aufwendigen Multimedia-Reportage waren ein Menge Leute beteiligt: Autor Marcel Gyr, die Online-Redakteurin und Datenjournalistin Sylke Gruhnwald und ein Team der Visualisierungs-Agentur Interactive Things. Die Erläuterungen zu Bildern und Videos haben Gyr und Gruhnwald gemeinsam geschrieben. Das überrascht mich, denn dann war das Hintergrundwissen ja vorhanden, ist aber so gut wie gar nicht in die Beschriftung eingeflossen. Wie gesagt: Hier ist viel zu wenig Kontext vorhanden. Es verwundert mich sehr, dass die beiden hier nicht mehr in die Tiefe gegangen sind.

Die Legenden der Grafiken und Visualisierungen hat Interactive Things produziert, leider gibt es auch hier Punktabzug in Sachen Verständlichkeit.

Zu viele Eyecatcher

Evakuierte Personen in Fukushima - NZZ-Screenshot

Die Legende zur Grafik „Evakuierte Personen“ erklärt nicht, wie die Zahlen und Balken zu lesen sind.

Kommen wir zur Usability bzw. zur User Experience. Die Multimedia-Elemente sind zwar immer an einer thematisch passenden Stelle im Text platziert. Weil sie aber so groß sind, lenken sie von der Textlektüre ab. Manchmal sind die Grafiken – wie im Fall der „Evakuierten Personen“ so groß, dass man gar nicht mehr sieht, dass darunter der Text noch weitergeht.

Wenn man ein neues Kapitel aufruft, springen einem immer gleich die Bilder, Videos und Grafiken ins Auge und das bleibt auch so, wenn man im Text nach unten scrollt. Das Auge nimmt nun mal optische Elemente bevorzugt wahr und der Text ist so voller Eyecatcher, dass ein ruhiges Leseerlebnis unmöglich ist. Insofern ist das Ziel, „einen stringenten Text ohne Multimedia-Elemente zu produzieren und gleichzeitig den Lesefluss nicht zu unterbrechen, sobald die Elemente hinzugekommen sind“ (Benjamin Wiederkehr, Produktionschef bei Interactive Things), klar verfehlt worden.

Multimedia-Inhalte kannibalisieren sich

Ausgangspunkt für die Multimedia-Reportage war der geschriebene Text. Die Reportage hat „den Weg gewiesen zu den Themen, z. B. die Zahl der evakuierten Personen oder die Strahlenbelastung in den verschiedenen Regionen“, sagt Sylke Gruhnwald, die die Daten in der NZZ-Online-Redaktion recherchiert und die Reportage mitproduziert hat. Sie sagt weiter, dass es dem Team „wichtig war, eine Verknüpfung von Erzähl- und Datenstrang zu schaffen“. Das ist ein großes Ziel – vielleicht ein zu großes.
Mir drängt sich der Eindruck auf, dass hier ein Multimedia-Feuerwerk abgebrannt wurde, ohne genau zu bedenken, welchen Zweck das jeweilige Feature genau haben soll. Eine Reportage erzählt eine Geschichte, dazu macht sich vielleicht noch eine Bildergalerie ganz gut, die manche beschriebenen Eindrücke bebildert. Damit sollte es aber gut sein. Grafiken haben hohes Erklärpotenzial – erklären ist aber etwas anderes als erzählen. Videos sollten ein Ereignis, eine Szene, irgendeine Aktion zeigen, authentisch sein. Aber wenn man all diese Elemente in einem Special zusammenklebt, kannibalisieren sie sich – unter dem Strich verlieren alle Elemente an Bedeutung. Hier gilt ganz klar die Devise: Weniger wäre mehr gewesen. Und die Elemente, auf die man sich dann konzentriert, sollte man umso sorgfältiger anmoderieren. Separat ausgespielt wären der Erzählstrang und der Datenstrang (zum Beispiel in einem interaktiven Datenspecial, in dem der Nutzer selbst steuern kann, wie tief er ins Thema einsteigen möchte) vermutlich besser zur Geltung gekommen.

Fazit

Die Multimedia-Reportage „Keine Zeit für Wut“ der NZZ ist optisch sehr schön anzuschauen, der Text ist in einem klaren, ruhigen „Snowfallish-Layout“ präsentiert. Es sind sehr viel Zeit, Recherche und Produktionskapazität in die multimediale Aufbereitung geflossen – ich begrüße es sehr, dass die NZZ so etwas ermöglicht und Experimentiergeist zeigt.

Multimediale Elemente können ein Thema enorm bereichern, man kann sie aber auch überstrapazieren. Das ist leider bei „Keine Zeit für Wut“ der Fall. Dem Nutzer ist in den seltensten Fällen damit geholfen, wenn man dann alles in einen Topf schmeißt. Das verwirrt eher. Die meisten Features sind nicht gut erklärt, einige gar nicht. Daher können sie nur einen Bruchteil ihrer intendierten Wirkung entfalten. So bleibt der Bilder-, Video- und Grafik-Rausch ein Muster ohne (Mehr-)Wert.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in: JOURNALISMUS & NETZ, NEU, Neue Formate
  • Über Bernd Oswald

    Bernd Oswald, Jahrgang 1974, ist Autor und Trainer für digitalen Journalismus. Mich fasziniert es, wie die Digitalisierung (nicht nur) den Journalismus verändert: mehr Quellen, mehr Transparenz, mehr Interaktion, ganz neue Möglichkeiten des Geschichtenerzählens, vor allem visuell und mit Daten. Über diese Phänomene schreibe, blogge, twittere und lehre ich seit 2009.

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