27.10.2014

Kollektives Anti-Yoga

Das „Verhältnis Mensch und Maschine“ auf den Münchner Medientagen

Mein Lieblingsbeitrag bei den Medientagen 2014 stand vor dem Ende der Konferenz fest: Die Uni Bonn machte in Technikfolgeabschätzung und Prof. Alexander Markowetz präsentierte die ersten Ergebnisse der „Menthal“-Studie. Ein Projekt, das in seinen Worten die „psychosozialen Nachbeben der IT Innovation“ beleuchten will und dazu nach belastbaren Daten fischen musste.
Das Netz für diesen Fischzug war eine Smartphone-App, die eigentlich macht, was alle Anbieter digitaler Kommunikation (plus diverse noch untransparentere Vereine) auch machen, nämlich das Nutzungsverhalten des Users genauestens auszuwerten. Nur eben auf freiwilliger Basis und transparent.

200.000 Nutzer, 50 TV Auftritte, 150 Interviews, ungezählte Artikel: die Forscher wurden von einer Flutwelle des Interesses überrannt.
„Spannend, welch enormer Redebedarf und welcher Druck sich in der Gesellschaft aufgebaut hat“, sagt Markowetz dazu.

Vorgestellt wurde die Auswertung an einer exemplarischen Gruppe von 5.000 Usern. Markowetz betonte, dass insgesamt ein verblüffend homogenes Bild durch alle Schichten und Altersklassen entstanden ist – die jetzt ausgewertete Gruppe liegt mit ihrem Durschnittsalter irgendwo in den 20ern.
Und das sind die, wie ich finde, ziemlich erschlagenden Zahlen:

Durchschnittlich 3 Stunden Nutzung am Tag – und zwar nicht mit „spotify“ o.ä., das im Hintergrund läuft, sondern mit aktivem Schirm, in haptischer und visueller Interaktion.

60-80 mal (alle 12-16 Minuten) einschalten; 12 % schalten sogar mehr als 92 mal an, d.h. unterbrechen sich selber mindestens alle 10 Minuten.

Kaum Telefonate (7-8 Minuten) – die „großzügigen“ Flatrates aller Anbieter sind die logische Konsequenz.

Massive Kommunikation & Social Media Nutzung. WhatsApp 30 Min., Facebook 20 Min., dann Instagram. Die drei allein machen über eine Stunde aus, womit also die Firma Facebook Inc. etwa ein Drittel der mobilen Aufmerksamkeit kontrolliert.

Markowetz formulierte dann im Weiteren Ideen und Erkenntnisse zu der Beurteilung dieser Zahlen und den denkbaren Folgen. Dabei war nicht mehr wirklich klar, was Interpretation und was Ergebnis war. Oder zumindest mir nicht. Interessant und sehr unterhaltsam war es, trotz der unfassbar schrecklichen Folien. Ich fasse zusammen, wie ich es verstanden habe.

1. Aufmerksamkeitsökonomie
Die beschränkte Ressource ist Zeit, und ausgehend von 16 Stunden wacher Lebenszeit am Tag sind 3 Stunden schon relativ viel. Es entsteht also knallharter Wettbewerb um diese Zeit und zwar nicht nur zwischen Firmen, sondern natürlich auch
unter Menschen (soziale Aufmerksamkeit) und beim Einzelnen (wie diszipliniere ich mich, um trotzdem zu funktionieren?).

2. Ist das Sucht?
Nicht wirklich belastbare Studien aus Korea sprechen von 1-7% Smartphonesüchtigen.
Interessanter sind vielleicht die, die in ihrer sonstigen Aktion durch Überkonsum des MobileWeb eingeschränkt sind: da geht Markowetz von 25% aus. Er spricht von „denen, die keine Alkoholiker sind, aber ab und zu abstürzen“.

3. Der kleinste gemeinsame Nenner
Was machen die erfolgreichen Angebote auf Smartphones? Also was haben Candy Crush,
WhatsApp, Facebook, Email und Spiegel Online gemeinsam?
Es ist das Prinzip „Geldspielautomat“. Das heißt: ich drücke auf einen Knopf und erwarte ein Ereignis. Ist das Ereignis eingetreten – ich habe beispielsweise eine Nachricht erhalten – rechtfertigt das die ständige Überprüfung dieses möglichen Ereignisses. Ist nichts vorgekommen, ist die ständige Überprüfung ebenso begründet, es könnte ja mittlerweile etwas passiert sein.
Die Systeme bieten eine ständige Wiederholung immer gleicher Abläufe und einen Wechsel von häufigem Frust und gelegentlicher Belohnung. Letzteres hält mich in der Nutzung.
Markowetz weist darauf hin, dass Geldspielautomaten Familien, Karrieren und Vermögen zerstören. Klingt ja dann doch sehr nach Sucht.
Während die Geldspielautomaten früher eben auf sehr spezielle Orte beschränkt blieben, haben wir es jetzt geschafft, sie perfekt zu tarnen und sie quasi überall unterzubringen.

4. Probleme?
Sind drei Stunden vielleicht ganz ok? Wieviel echte Zeit geht verloren oder handelt es sich nur um Zeitfenster, die auch früher müßig waren? Brauchen wir diesen Müßiggang? Fördert der Verlust dieser Mikropausen Burnout und Depression? Reduzieren wir unsere Produktivität, weil wir uns ständig unterbrechen? Weil wir ständig unterbrochen werden? Weil wir nichts mehr richtig machen? Verlieren wir unsere Achtsamkeit? Für uns und für andere?
Das Gefahrenpotential ist offensichtlich, vielschichtig, und im Detail schwer erfassbar. Gerade der Verlust von Produktivität und die Langzeitfolgen insgesamt sind schwer zu untersuchen, weil keine „off-Testgruppe“ verfügbar ist, das Tempo der technischen Innovation ungebrochen hochrasant ist und sich insofern auch die Einflüsse weiter verändern.
Markowetz spricht vom „kollektiven Antiyoga“. Und er spricht von massenhafter, freiwilliger, mentaler (und auch orthopädischer) Fehlhaltung, die eben wahrscheinlich zu physischen und psychischen Degenerationserscheinungen führen wird.

Antiyoga2
Lösungen
Markowetz geht von einem Konsolidierungsbedarf aus. Irgendwie muss das anders werden. Irgendwie brauchen wir digitale Diät, smartphonefreie Zonen und Armbanduhren. Ihm scheint da jeder Weg gangbar, außer Gesetze. Er hofft auf ein Einsehen der Unterhaltungsindustrie und sieht sie in der Verantwortung, Geräte zu konzipieren, die zu kognitiver Entlastung der User führen. Er hofft auf eine neue Kommunikationskultur, die sich zu allererst in den Unternehmen etablieren muss, und setzt im Umgang mit MobileWeb auf individuelle Verantwortung – jeder für sich, aber auch untereinander.

Vor allem Letzteres – man könnte es wahrscheinlich auch Emanzipation nennen – scheint mir unverzichtbar. Wie komme ich vom Glücksspielautomaten zum Werkzeugkasten?
Vor zwei Jahren hat mir meine Familie die gelbe Karte gezeigt in diesem Spiel. Wenn einem die eigenen Kinder sagen müssen, dass sie es leid sind, hinter einem Smartphone wahrgenommen zu werden, so ist das eine Möglichkeit, mich zu beeindrucken. Seit dem behandele ich mein Smartphone wie früher das Rauchen – Hauptsache, die Kinder sehen es nicht.
Die „Menthal-Studie“ beeindruckt mich auch, und ich bin sehr gespannt auf die finale, auf der kompletten Datenbasis von 200.000 Nutzern aufgebaute Studie. Trotzdem werden die Kinder mein Gesicht noch oft genug in weißblauem Licht sehen. Aber für ein paar gute Vorsätze haben die Zahlen bei mir gereicht.

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