Radio der Zukunft
Warum werden Audios so selten viral und wie könnten sie es öfter werden. Diese vermeintliche Gretchenfrage beschäftigte nicht nur die Teilnehmer der Radio21-Konferenz des Deutschlandradios.
Nicht wenige Redakteure und Radiomacher schauen ein wenig neidisch auf die Klick- und Sharingraten von Videos, Fotos oder Texten. Manch einer träumt mehr oder weniger heimlich davon, endlich die Formel für den akustischen Katzencontent zu finden. Die Sorge dahinter: Sendet das Radio vielleicht schon bald an der Generation Smartphone und Social Network vorbei? Kann es zukünftig eine Generation erreichen, die nicht mehr dazu sozialisiert wurde, vor dem morgendlichen Zähneputzen das Radio einzuschalten? Eine Generation, die ihr schnelles Informationsupdate längst online bekommt und selbst entscheiden will, wann und auf welchem Gerät sie ihre Inhalte abruft.
Manche Schwierigkeiten des Audios mit der Viralität liegen in der DNA des Mediums: Videos kann man auch schnell mal ohne Ton bei der Arbeit durchskippen, Bilder und GIFs funktionieren sowieso unmittelbar. Audiobeiträge dagegen brauchen Aufmerksamkeit und Echtzeit, sie lassen sich weder durchklicken noch querhören und kommen ohne Zwischenüberschrift oder aussagekräftiges Standbild. Für das schnelle Reiz-Reaktionsschema der sozialen Medien scheinen sie daher nur bedingt geeignet. (Einer der Gründe warum Social-Media Redakteure von Jugendwellen gerne mal auf Fotos setzen – und mit lustigen Schnappschüssen vom Redaktionshund zehnmal so viele Likes einsammeln, wie mit dem tollen Featureformat.) Und während die meisten viralen Videos unter drei Minuten liegen, fängt es bei Audios dann oft erst an interessant zu werden. Gerade das Alleinstellungsmerkmal des Nebenbei-Mediums wird zum Stolperstein bei der Teilbarkeit: Kein anderes Medium lässt sich mit Autofahren, Joggen oder Putzen besser vereinbaren. Aber wenn man die Hände gerade am Lenkrad oder im Spülwasser hat, ist der Sharebutton einfach zu weit entfernt. Auch die besondere Intimität des Hörens provoziert offenbar weniger zum schnellen Sharen, meint etwa Amanda Brown von audioBoom.
Akustischer Cute-Content
Dabei gibt es sie durchaus, die viralen Audios. Aber lernen können Radiomacher von ihnen eher wenig. Unter den 30 viralen Audios, die Ben Fawkes von Soundcloud analysiert hat, waren gerade mal zwei Dokumentationen und ein Feature. (Oder immerhin: je nach Perspektive.)
Der überwiegende Teil fällt in die Kategorie akustischer Schnappschuss: Mitschnitte von aberwitzigen Mailboxnachrichten, lustigen Notrufen oder freidrehenden Prominenten bringen es problemlos auf siebenstellige Klickzahlen. Mit der Arbeit von Radiomachern verbindet sie bestenfalls die Tradition der Telefonstreiche, die sich gerade im Privatradio – und mittlerweile auf Youtube – ungebrochener Beliebtheit erfreut. Aber auch gebaute Audiostücke mit sozial-medialer Erfolgsbilanz bewegen sich überwiegend im Bereich Cute-Content für die Ohren: niedliche Kinder oder Erbauungsgeschichten kommen kaum überraschend auch akustisch auf Millionen Klicks. Besonders wenn Trüffelschweine der Viralität wie Upworthy beim Vertrieb helfen. Radiomachern hilft diese Erkenntnis wenig, wollen sie ihre Arbeit nicht zukünftig den süßen oder rührenden Seiten des Lebens verschreiben.
Weil Bewegtbild erfahrungsgemäß besser funktioniert, setzen deshalb nicht nur Jugendwellen konsequent auf ergänzende Videos. Ein gutes Prinzip um neue Hörer zu gewinnen oder den Stammhörern das Gesicht zur vertrauten Stimme zu liefern. Um die Qualitäten des Audios zu featuren eignet sich das natürlich weniger. Sollten sich Radiobetreiber also von der Hoffnung auf die großen viralen Würfe mit akustischen (qualitativ hochwertigen) Inhalten verabschieden? Nicht unbedingt. Die maximale sozial mediale Reichweite bleibt zwar weiterhin für Videos und die Buzzfeeds dieser Welt reserviert. Dass Deutschlandradio Kultur, WDR 5 oder das RBB Kulturradio mit ihrer feuilletonistischen Ausrichtung kaum zu Facebook-Lieblingen avancieren dürften, ist wohl klar und auch nicht weiter tragisch. Bleibt die Frage, ob Radiomacher bereits ihre Möglichkeiten ausreichend ausschöpfen, um Inhalte für Hörer auffindbar und teilbar zu machen.
Experimente in Sachen Viralität
Gerade das US-amerikanische Radionetzwerk NPR experimentiert ausgiebig und auf verschiedenen Ebenen mit den viralen Möglichkeiten des Audios. Die Grundüberlegung: Teilbare Audios zu finden dauert einfach zu lange. Oft sind besonders spannende Töne in längeren Stücken versteckt. Und einen Timecode postet man eher ungern: Deshalb haben sich die Sender daran gemacht, etwa aus Zehnminütern die dreißigsekündigen Ohrwürmer herauszufiltern.
Das Ergebnis sind kurze, griffige Audios, die auf die Kraft und Intimität der Akustik setzen: Wie klingt ein ausbrechender Vulkan oder der pazifische Ozean, wie tönt das Innere eines Hurrikans oder das Gefängnis St. Quentin. Wie fühlt es sich an, fast zu ertrinken?
Aufbereitet wurden die Audios mit einer Überschrift, die eine einzigartige Hörerfahrung versprach, einem Bild um es social-media-tauglich zu machen, einem kurzen, kontextualisierenden Text und einem Link zur Vollversion.
Das Resultat des Experiments: In allen Fällen kamen die Nutzer zu über 90 Prozent aus den Sozialen Medien, klickten die Überschriften, teilten die Posts und hörten die Audios in deutlich überdurchschnittlicher Zahl.
Unlängst hat NPR seinem Experiment ein Update verpasst. Entstanden sind 44 Audiostücke überwiegend unter 2 Minuten, die insgesamt 500.000 mal gehört wurden und nach Angaben von NPR dabei rund fünffach höhere Aufrufzahlen als im Senderdurchschnitt erreichten. Den ersten Ansatz ausdifferenzierend wurden die Audios dabei in vier Kategorien unterteilt: Audio-Explainer, also kompakte Erklärstücke, die etwa die enorme Beliebtheit von Tomatensaft im Flieger wissenschaftlich aufschlüsseln; Whoa-Sounds, also Klangsignaturen von Orten, Tieren, Menschen; Storyteller, also das Kondensat einer besonderen Geschichte, und Snappy Reviews, also knackig kurze Kritiken. Teil des Experiments war auch die Umkehrung der üblichen Verwertungskette: Bei den meisten der Stücke galt diesmal digital first.
Natürlich können die akustischen Blitzlichter Reportagen oder Features nicht ersetzen. Und nicht aus jedem Stück dürften sich solche Mikroaudios destillieren lassen. Aber als akustischer Appetitanreger für die Langstrecken, oder um radiofernere Nutzer in kleiner Dosis für die Qualitäten des Audios zu gewinnen, sind sie definitiv ein vielversprechender Ansatz.
Wie reagiert man auf veränderte Nutzergewohnheiten? Wie erreicht man den non-linearen Nutzer von Heute und Morgen? Neben sorgfältig verschlagworteten Inhalten, die von Suchmaschinen und damit von Usern gefunden werden können, braucht es gut ausgestattete Mediatheken, ein umfassendes Podcastangebot und aufgeräumte Internetauftritte, in denen jeder Beitrag auch hörbar sein sollte. Möglichst mit einem sichtbaren und gut platzierten Playbutton, der nicht grau und bescheiden an den Seitenrändern auf aufmerksame User wartet. Gut umgesetzt ist das beispielsweise beim neuen Internetauftritt von Deutschlandradio Kultur. Die Playbuttons sind hier direkt in die Fotos auf der Startseite integriert. Reinhören funktioniert also unmittelbar und ohne Durchklicken zum Beitrag.
Um auf den Smartphones präsenter zu werden, versuchen europäische Radiosender die Hersteller dazu zu bewegen, DAB+ Empfänger standardmäßig auf ihren Geräten einzubauen. Der Unterstützerkreis des sogenannten Euro-Chip unter den Sendern wird zwar immer größer. Gesetzgeber und Hersteller haben allerdings bislang noch nicht auf den Euro-Chip angebissen.
NPR.One – Last.fm fürs Wortradio
An alternativen Wegen, um das Wortradio aufs Smartphone zu bringen, arbeitet (mal wieder) NPR. Seine App NPR.One ist eine Art Last.fm für den Hörfunk, der User nach ihren Vorlieben mit maßgeschneiderten Inhalten bespielt. Beiträge, die man vollständig hört oder mit einem Glühbirnensymbol als besonders interessant markiert, merkt sich die App. Wie bei Netflix oder Spotify wird der Nutzer dann anhand diese Profils mit ähnlichen Inhalten bespielt. Mancher sieht hier schon die Zukunft des Radios aufscheinen.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt hierzulande das geplante Portal mymediaguide. Das ambitionierte Projekt des Journalisten Stefan Westphal versteht sich als Pfadfinder durchs Unterholz der Mediatheken und will Nutzer entsprechend ihrer Stimmungslage und Interessenfelder mit kuratierten Videos, Multimediareportagen und eben Audios beliefern.
Ausschließlich aufs Wort konzentriert sich das thüringische Startup myRadioDay. Das Projekt um Radiomann Thomas Becker begreift sich als das erste personalisierbare Info-Radio und bietet dazu individualisierbare Playlisten für unterschiedliche Situationen: wer auf dem Weg zur Arbeit mit Kurznachrichten versorgt werden will, in der Mittagspause sportlich auf den neuesten Stand kommen will, um am Abend Richtung Kultur zu wechseln, kann sich das Angebot entsprechend zusammenstellen. Während myRadioDay die Infrastruktur stellt und mit einer kleinen hauseigenen Redaktion den Nachrichtenmantel liefert, sollen die Inhalte der einzelnen Rubriken überwiegend von freien Journalisten zugeliefert werden, die aufrufsbezogen an den Werbe- und Aboeinnahmen beteiligt werden. Das könnte allerdings auch ein Stolperstein für den ambitionierten Ansatz werden, aus dem Stand einen (personalisierbaren) Radiosender zu starten. Denn damit das Geschäftsmodell für gute Freie attraktiv wird, muss die Reichweite stimmen. Damit die Reichweite stimmt, müssen genügend Inhalte vorhanden sein. Und die sind bei dem noch jungen Projekt bislang noch ziemlich dünn gesät.
DIY.fm – Jeder sein eigener Senderchef
Vielversprechender und ungleich reichhaltiger bestückt ist da DIY.fm. Das Do-it-Yourself Radio der Schweizer Radio- und Fernsehgesellschaft gibt es bereits seit 2012 als Onlineplayer und wurde seinerzeit schon mit dem Prix Europa ausgezeichnet. Seit September letzten Jahres gibt es das Baukastenradio auch als App. Hier kann man Live-Programme aus 17 SRG Programmen in vier Sprachen mit abonnierten Inhalten und lokal gespeicherter Musik zu seinem persönlichen Programm zusammenbasteln. Während es in der Desktopversion dabei problemlos möglich ist, auch eigene Podcasts ins Sendeprogramm einzubinden, funktionierte das im Test auf der Android-App bislang nicht. Kinderkrankheiten, die über kurz oder lang wohl überwunden sein sollten. Als eigener Sendechef kann man sogar festlegen, zu welcher Tages- oder Urzeit bestimmte Inhalte abgespielt werden sollen: damit man etwa jeden Mittwoch pünktlich zur Jogging-Zeit den Lieblingspodcast auf die Ohren bekommt.
Personalisierte Angebote wie DIY.fm oder NPR.One werden den persönlichen Ton des moderierten Radios natürlich ebenso wenig vollständig ersetzen, wie Mikroaudios die Langstrecken. Spannende Ansätze um auf veränderte Nutzergewohnheiten zu reagieren, bieten sie sie in jedem Fall und wären auch für die deutsche Radiolandschaft wünschenswert. Denn wenn die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten die Schätze ihrer Mediatheken bündeln und zur Personalisierung freigeben, sollte das doch ein vielversprechender Weg sein, um dem Wort im Radio zukünftig seinen Platz auf den Smartphones zu sichern.