08.05.2015

Große Emotionen dank immersiver Technik: Jamie Pallot auf der re:publica

Virtual Reality (VR) ist auf dem Vormarsch. Auch im Journalismus wird zunehmend mit den vielfältigen Darstellungsmöglichkeiten neuer Gadgets, wie z.B. Samsungs VR-Gear, oder Google Cardboard experimentiert. An der Speerspitze dieser Bewegung stehen die beiden Journalisten Nonny de la Pena und Jamie Pallot mit ihrem Unternehmen Emblematic Group. In seiner Keynote auf der diesjährigen re:publica schwärmt Pallot von den Möglichkeiten des Mediums – und räumt gewisse Limitationen ein.

Mitarbeiterin von Buzzfeed Motion Pictures testet "Use of Force"

Mitarbeiterin von Buzzfeed Motion Pictures testet „Use of Force“

Google tut es, Samsung tut es und Facebook tut es natürlich auch: Die großen Player der Tech- und Internetwirtschaft stecken derzeit einiges an Kapital und Aufwand in die Entwicklung eigener Virutal Reality Hardware. Das US-Marktforschungsunternehmen Gartner sagt voraus, dass bereits im Jahr 2018 ca. 25 Mio  s.g. “head-mounted displays” (HMD) im Umlauf sein werden. Auch Jamie Pallot scheint sich seiner Sache sicher wenn er erklärt, dass die Technologie in wenigen Jahren so gewöhnlich sein wird wie etwa ein paar Kopfhörer, das man sich unterwegs in die Ohren stöpselt: “No doubt this will become a ubiquitous technology in three, maybe four years”.

Doch Pallot, der auf der re:publica spontan für seine Kollegin Nonny de la Pena das Rednerpult übernehmen muss, will nicht über Technik reden. Ihm geht es vor allem um die Kraft, die das Medium für journalistische Erzählungen entfalten kann, um sein Potential als Plattform für immersives Storytelling. Dabei verfolgen er und de la Pena ein klares Ziel: Emotionaler, kontroverser Journalismus, der eine völlig neue Intensität des Medien- und Nachrichtenkonsums mit sich bringt. “Es soll sich anfühlen, als ob man selbst gerade da ist”, sagt Pallot. “Embodiment” und “sense of presence”, also das quasi-körperliche Mitfühlen, Nachempfinden und Wahrnehmen gewisser Situationen, sind die Bergriffe, die sich wie ein roter Faden durch seinen Vortrag ziehen.

Erniedrigt in Guantanamo, Schlange stehen in L.A.

Die Projekte, an denen Pallot und de la Pena über die vergangenen Jahre gearbeitet haben, sind so vielfältig wie die Geschichten, die sie erzählen. Mal taucht man ein in den Alltag eines Häftlings im US-Gefangenenlager Guantanamo Bay,  mal findet man sich in der sengenden Mittagssonne von L.A. wieder und steht mit Obdachlosen Schlange für eine warme Mahlzeit. Plötzlich bekommt jemand weiter vorne einen epileptischen Anfall: Stimmengewirr, Unruhe bricht aus – und du stehst mitten drin.

Die Zusammensetzung der einzelnen Bestandteile ihrer virtuellen Erzählungen ist dabei meist sehr ähnlich: Audiomittschnitte, Bildmaterial, Zeugenaussagen – alles das, was den Nachbau der Geschehnisse mit ausreichend Realismus unterfüttert, um die Erfahrung so direkt und intensiv wie möglich zu gestalten. So wollen Pallot und de la Pena Orte und Situationen für die Öffentlichkeit zugänglich machen, die ihr sonst verschlossen bleiben.

Klassischer Journalismus

An erster Stelle, betont Pallot, steht bei allen Projekten trotz aller Technik nach wie vor klassisches, journalistisches Handwerk: Recherche, Konzeption, Geschichten erzählen. Die Quellen und Ressourcen, die sie dabei in ihre Erzählungen einfließen lassen, sind umso vielfältiger: Aus Open Source Kartenmaterial, architektonischen Renderings von Mietshäusern, mitgeschnittenen Notrufen, Verhörstranskripten und Bildern von diversen Immobilienportalen z.B., konnte das Team die Ereignisse rund um den Mord am jungen Afro-Amerikaner Trayvon Martin virtuell nachstellen. Langfristig, so Pallot, soll so auch für andere Journalisten eine Art modulares Sandkastensystem entstehen. Ein “Plug and Play way”, Geschichten zu basteln und zu erzählen.

Probelauf bei Buzzfeed Motion Pictures

Um die Reaktionen auf ihre virtuellen Geschichten auf die Probe zu stellen, hat das Team um de la Pena und Pallot eines seiner Projekte an einer Gruppe Journalisten von Buzzfeeds hauseigenem Motion Picutres Team getestet. Ausgestattet mit einer VR-Brille und einem virtuellen Handy war die einzige Vorgabe, dass sie 60 Sekunden Zeit haben würden mit dem Mobiltelefon Beweismaterial zu sammeln. Was sie dann erlebten, hatten wohl die wenigsten erwartet.

„Use of Force“ erzählt die Geschichte eines mexikanischen Immigranten, der von einer Gruppe Grenzschützer misshandelt wird und wenig später seinen Verletzungen erliegt. Zwei Zeugen haben den Vorfall unabhängig voneinander mit ihren Mobiltelefonen festgehalten. Aus dem Videomaterial, den Zeugenberichten, sowie Notrufaufnahmen und Verhörprotokollen, haben de la Pena und Pallot die Situation im virtuellen Raum rekonstruiert. In „Use of force“ schlüpfen die Testpersonen in die Haut dieser Zeugen. Hinter einem Zaun, bzw. auf einem Balkon stehend, müssen sie beinahe hilflos zusehen, wie der Mann – am Boden liegend und um sein Leben bettelnd (die Audioaufnahmen sind echt und stammen aus der Tatnacht) – von mehreren Polizeibeamten zu Tode geprügelt wird. Selbst als quasi doppelt entferntem Zuschauer läuft einem dabei ein kalter Schauer über den Rücken.

Abgesehen davon, dass alle Teilnehmer vom Experiment sichtlich ergriffen wirken, sind vor allem ihre körperlichen Reaktionen interessant zu beobachten: Manche beugen sich nach vorne, um besser sehen zu können – vorsichtig genug um nicht vom virtuellen Balkon zu fallen. Andere schreien den Polizeibeamten entgegen, sie würden gefilmt und sollen gefälligst aufhören. Embodiment., check. Sense of presence, check. Zwei von zwei möglichen Punkten.

“Seid verantwortungsvoll und nutzt das Medium so gut ihr könnt”

Dass ihre Projekte und Virtual Reality als journalistisches Stilmittel neben viel Begeisterung auch immer wieder auf Skepsis stoßen, ist Pallot gewöhnt. Zählte er doch selber einst zu den Skeptikern, bevor ihn die Intensität und Möglichkeiten des Mediums überzeugten, wie er immer wieder betont. In seinem knapp 45 minütigen Vortrag geht es ihm daher vor allem um eins: Für Offenheit gegenüber dem Medium zu werben. “Nichts ist jemals vollkommen objektiv, alles hat eine Narrative und an deren Ende sitzen Journalisten, die gewisse Entscheidungen treffen”, entgegnet Pallot auf eine Frage aus dem Publikum, ob denn diese dramatische Art der Berichterstattung auch wirklich noch neutral sein könne. “Be responsible and use the medium as best you can” – geht verantwortungsvoll mit dem Medium um, macht eure Hausaufgaben ordentlich und haltet an klassischen journalistischen Werten fest und es wird sich auszahlen.

Viele Fragen bleiben offen

Nicht die biedere Wiedergabe von Fakten ist also seine Mission, sondern das Geschichtenerzählen. Die Herangehensweise wirft jedoch auch durchaus (interessante) Fragen auf: Lassen sich die Spielregeln des Schreibens so einfach auf die Gestaltung virtueller Realitäten übertragen, oder müssen wir hier über eine neue ethische Verantwortung reden? Wie arg darf die Grenze zwischen dem Ideal vom Journalismus als nüchterner, distanzierer Berichterstattung und Journalismus als Kunstform verschimmen? Wie soll künftig die Rollenverteilung in den Redaktionsteams aussehen: Wieviel technisches Know-How, wie viel Programmierer müssen im Journalisten stecken, wieviel journalistische Sensibilität im Programmierer?

Antworten hat Pallot auf diese Fragen nicht. Wenn es nach ihm ginge, sollten wir allerdings besser gestern als heute anfangen, uns diesen Fragen zu stellen.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in: JOURNALISMUS & TECHNIK

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