02.06.2016

Redaktionskonferenz bei Wikipedia: Leitlinien, Quellenkritik und Stilvorgaben

Wikipedia ist längst kein unkoordinierter Haufen von Laien mehr. Locker organisierte, thematische Redaktionen achten auf inhaltliche Qualität und Vollständigkeit. Ein Einblick in die Arbeit drei ehrenamtlicher Wikipedia-Redaktionen: was machen sie, wer ist dort aktiv, und was motiviert die Beteiligten?

Wikipedia-Redaktion Medizin

To-do-Listen, Leitlinien und Redaktionschat: die Startseite der Wikipedia-Redaktion Medizin

Dass hinter Wikipedia keine klassisch-professionelle Redaktion mit bezahlten Stellen und penibel geregelten Prozessen steht, dürfte mittlerweile jedes Kind wissen. Weniger bekannt ist, dass es dann aber doch in Teilen vergleichbare Strukturen gibt. Mehr als 30 mehr oder weniger aktive Redaktionen existieren in der deutschsprachigen Wikipedia, etwa zu Medizin, zu Recht, zu Religion, Sexualität oder Film und Fernsehen.

Diese sind zumindest insofern professionell, als dort oft Angehörige des jeweiligen Fachs tätig sind: berufstätige oder angehende Jurist*innen in der Redaktion Recht und Ärzt*innen in der Redaktion Medizin verfassen und redigieren Artikel. Sie diskutieren Konflikte und Fragestellungen des jeweiligen Fachs und stellen spezifische Regelwerke für ihre jeweiligen „Ressorts“ auf.

Redaktion Medizin: erwünschte und unerwünschte Quellen
Die Redaktion hat unter anderem Leitlinien für Artikel aus dem Themenbereich Medizin erarbeitet, die, wie es heißt, „nach intensivem Meinungsaustausch beschlossen“ wurden. Die legen beispielsweise fest, was „erwünschte“ und was „unerwünschte Quellen“ sind. Zu den ersteren zählen unter anderem Lehrbücher und Überblicksarbeiten aus medizinischen Fachzeitschriften. Als „unerwünscht“ gelten Inhalte aus Wissenschafts-Journalen ohne das übliche Peer-Review-Verfahren, aber auch Pressemitteilungen von Krankenhäusern, Webseiten von Selbsthilfegruppen und kommerzielle Gesundheitsportale. Auf einer Unterseite zur Qualitätssicherung wird über „dringend überarbeitungswürdige“, fachlich falsche oder redundante Artikel diskutiert.

In der Liste der Redaktion:Medizin sind 23 regelmäßige Mitarbeitende genannt. 19 von ihnen geben an, dass sie einem medizinischen oder pharmazeutischem Beruf nachgehen. Sie stammen aus den Bereichen Zahnmedizin, aber auch Gynäkologie, Sportmedizin oder Neurologie. Zwei Tierärzte stehen in der Redaktions-Liste und zwei Apotheker. Einmal pro Jahr gibt es Treffen an wechselnden Orten.

Redaktion Geschichte: Propaganda-Wörter und problematische Historien-Bilder
Knapp 60 beteiligte Leute mit ihren jeweiligen Schwerpunkten werden in einer Liste der Redaktion:Geschichte genannt. Einer interessiert sich explizit für griechisch-römische Antike, andere für die deutsche Historie ab 1871 oder auch für Bahngeschichte. Zur Orientierung für Neulinge gibt es fachspezifische Richtlinien mit „Konventionen, Anregungen und Empfehlungen“. Die schreiben etwa vor, dass sich beim Schreiben an Begriffen der Geschichtswissenschaft orientiert werden sollte. Vorsicht soll bei der Verwendung von Propaganda-Wörtern wie etwa dem euphemistischen „Schutzhaft“-Terminus der Nazis gelten. Und bei Einbettung von Historienbildern sollte bedacht werden, dass diese nicht unbedingt eine realitätsnahe Darstellung historischer Verhältnisse darstellen.

Die Arbeit im Bereich Geschichte geschehe eher individuell, erzählt Redaktionsmitglied Ziko van Dijk, weswegen er vom Begriff „Redaktion“ auch nicht ganz überzeugt ist. „Es ist eher ein schwarzes Brett oder eine thematische Diskussionsseite.“ Die eigentliche „redaktionelle Arbeit“ im Sinne einer Kuratierung von Inhalten finde in der Regel auf Einzelebene statt. Von realweltlichen Treffen wie bei anderen Redaktionen sei ihm nichts bekannt. Es habe mal Skype-Konferenzen gegeben, aber die sind seit langem eingeschlafen. Möglicherweise liege das an der Spezifika des Fachs, glaubt van Dijk: „Historiker arbeiten ja auch sonst oft allein.“ Der promovierte Historiker hat seit 2003 etwa 200 deutschsprachige Artikel angelegt, zudem noch einige Dutzende in der englischen, niederländischen und Esperanto-Sprachausgabe. Vor zwei Jahren hatte er das „Projekt 48“ ins Leben gerufen und 48 Artikel zur deutschen Revolution 1848/1849 verfasst oder schon existierende verbessert.

Redaktion Recht: juristische Präzision und Laien-Verständlichkeit
Zwölf Leute werden als Ansprechpartner in der juristischen Redaktion genannt. Einer von ihnen ist der Doktorand Lukas Mezger alias Gnom, der kurz vor dem Abschluss einer juristischen Dissertation an der Uni Kiel steht. Er sieht die Redaktion als losen Zusammenschluss, der die Arbeit im Themenbereich koordiniert und Anlaufstelle für Fragen zu juristischen Wikipedia-Einträgen sein will. Diskutiert werden unter anderem Zitierregeln für Gesetze oder Fragen des Rechtsvergleichs. Teilweise tausche sich die Redaktion über die Wikipedia-internen Nachrichtensysteme aus, teilweise per Mail oder Telefon. Und immer wieder gebe es auch Treffen auf allgemeinen Veranstaltungen der Wikipedia-Community.

Für die Artikel gelten natürlich die üblichen Wikipedia-Regeln, erzählt Mezger, bei juristischen Einträgen ergeben sich aber daraus aber mitunter spezielle Probleme: „Bei den Relevanzkriterien ist das zum Beispiel die Frage, ab wann ein Wort einen echten Rechtsbegriff darstellt, den man wissenschaftlich definieren kann.“ Bei der Umsetzung des Prinzips Verständlichkeit müsse zum einen auf eine präzise Nutzung der juristischen Fachsprache geachtet werden, zum anderen sollte die Texte aber für Laien verständlich bleiben. Wer sich an Wikipedia beteiligte, habe eine enorme Verantwortung, meint Mezger: „Fast jeder verwendet heutzutage Wikipedia, angefangen vom Laien, der eine Rechtsfrage klären wollen, bis zum Richter am Oberlandesgericht, der ein Argument oder eine Definition für ein Urteil überprüfen möchte.“ Er schätzt, dass er bisher an mehreren hunderten Artikeln beteiligt war, etwa an einem Text über die umstrittenen Gefahrengebiete im Polizeirecht.

Motivation: die „Hausaufgaben der Menschheit“
Seitdem er 2005 seinen ersten Eintrag für Wikipedia erstellt hatte, habe ihn der „Wikipedia-Virus“ nicht mehr losgelassen. Es sei einfach unheimlich spannend und inspirierend, mit so vielen schlauen und interessierten Leuten zusammenzuarbeiten. Die hauptsächliche Motiviation mitzumachen, sei sicherlich der Gedanke, etwas gutes zu tun und durch das Zugänglichmachen von Wissen als Wikipedianer „die Hausaufgaben der Menschheit“ zu machen.

Dieser Eintrag wurde veröffentlicht in: JOURNALISMUS & NETZ

0 Kommentare zu diesem Artikel


  1. Heutzutage einen Artikel über die deutsche wikipedia zu schreiben, der die im Film „Die dunkle Seite der Wikipedia “ von Markus Fiedler und Frank-Michael Speer nachgewiesenen politischen Manipulationen ausblendet, ist nicht gerade am Puls der Zeit. Warum wurden die Verantwortlichen nicht zu den Vorwürfen befragt und wie man in Zukunft dafür sorgen will, dass die wikipedia in politischer Hinsicht neutral, sachlich und objektiv wird? Warum erkennt man die Problematik eines Begriffs wie “Schutzhaft” wirft aber inflationär mit dem diffamierenden Begriff „Verschwörungstheoretiker“ um sich und benutzt Quelle (wie die „Ruhrbarone“), die so seriös oder wissenschaftlich sind, wie eine Schülerzeitung?

    Ohne diese kritischen Aspekte ist der Artikel bestenfalls PR, aber kein Journalismus.

    • Hallo Martin Kohlhaas,
      ihre Kritik am vagen und nicht sehr trennscharfen Begriff „Verschwörungstheoretiker“ teile ich, hab ihn meines Wissens nach in dem Artikel aber auch nicht verwendet.

      Und zu der konkreten Frage: der Fokus des Artikels war eben nun mal ein Überblick über das Modell der ehrenamtlichen Wikipedia-Redaktionen und keine Erwiderung oder kein Weiterdrehen des Films. Mit Ihrem Kommentar haben Sie ja aber zumindest auf den Film aufmerksam gemacht, so dass sich jeder ein eigenes Bild von der Materie machen kann 🙂

      • Oh bitte. Dass man mit so schwachem Material so viel Aufmerksamkeit erregen kann, wie diese „Dokumentarfilmer“.

        • Was ist denn an Tatsachendarstellung schwach?

          Ich finde die Aufmerksamkeit auf diese Oroblematik zu lenken mehr als ehrenwert, auch wenn der Film handwerkliche Fehler besitzt.

    • vollkommen Ihrer Meinung, Herr Kohlhaas!

  2. Gelungener Kommentar zu einem selektiven Artikel.

    Ich kann zu den angeführten Beispielen aus der Medizin nichts sagen, da ich weder über Fachwissen verfüge noch mir die Wikilügia-Artikel anschaue.

    Zum Thema Historie allerdings ist die Sache eindeutig: ich wollte die völkerrechtlich gestattete Sezession der Krim in die wikilügia einbringen, was allerdings an den ideologischen Blockwarten scheiterte. Dort möchte man die angloamerikanische Einseitigkeit beibehalten. Der Artikel der SZ zum Massaker von Katyn belegt eindrucksvoll, wie wenig aktuelle Quellen, revidierte Meinungen in Artikel integriert werden – Ausnahmen gibt es manchmal, wenn man das New World Trade Center 7 anschaut, welches von Kopilot nun doch etwas geändert wurde, da das mit dem Feuer von den anderen WTC-Türmen zu großer Humbug ist, der allerdings von Gustav von Aschenbach mit aller Hartnäckigkeit über lange Zeit beschützt wurde.

    Die Wikilügia gehört in seiner jetzigen Form geschreddert und auf neue Beine gestellt.

    • Wer mehrmals den Begriff „Wikilügia“ benutzt, von „angloamerikanischer Einseitigkeit“ spricht und das Objekt der Kritik rundheraus geschreddert sehen will, scheint nicht besonders an einem sachlichen Diskurs interessiert zu sein.

      • Wer sich an Wortwahl stört, ist wohl an keiner sachbezogenen Diskussion interessiert. Ich sehe keinen sachbezogenen Einwand auf meine festgestellten Tatsachenwahrheiten. Angloamerikanische Geschichtsschreibung herrscht dort vor. Das ist Tatsache. Wer sich an der Benennung treffender Begriffe von Tatsachen wie „US-Imperium“ stört, ist bestens bei den „Diskussionen“ dieser Wikipedia aufgehoben.

  3. Wikipedia ist schlicht der Versuch sich eine neue Wirklichkeit im nicht realem Leben aufzubauen.
    Anders kann man die redigierenden „Blockwarte“ von Wiki nicht auslegen. alles was ihnen nicht im Inett vorliegt und in alten Chroniken belegt ist wird von ihnen als unwahr und nicht belegbar gestrichen und nur sehr selten doch einmal übernommen.
    Selbst Artikel vom heutigen Politikern, wenn sie dann von denen im Netz weitgehend manipuliert wurden, werden von Wiki als Wahrheit hingestellt, selbst wenn es nicht wahr sein kann.

    Bin bei Herrn Kohlhas, der war schon eine Historie. 😉

    Wiki hat mit seinen recht einseitig reagierenden Moderatoren die eigene Glaubwürdigkeit untergraben.

    Gurupedia wäre treffender.


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