Netzwelt-Rückblick Mai: Rezo-Video, Desinformation im Europawahlkampf, Redaktionsgeheimnis in Gefahr
Das bestimmende Netzthema im Mai war aus journalistischer Sicht die Europawahl: Vor allem das Video „Die Zerstörung der CDU“ erhitzte die Gemüter. Viel debattiert wurde über die Frage, wie groß das Problem mit der Desinformation im Europawahlkampf war. Und der Verfassungsschutz soll die Online-Durchsuchung auch gegen Journalisten einsetzen dürfen.
Das Rezo-Video und die Frage der Meinungsfreiheit
Am 26.Mai war Europawahl – und die politischen Kräfteverhältnisse haben sich deutlich verschoben: Erstmals überhaupt haben die beiden großen Parteienfamilien, die konservative Europäische Volkspartei und die sozialdemokratische S&D, zusammen keine Mehrheit mehr im Europäischen Parlament. Das gleiche gilt für Deutschland, wo CDU und CSU auf 28,9 Prozent (-6,4 Prozentpunkte) und die SPD auf 15,8 Prozent (-11,5 Prozentpunkte) abstürzten. Direkt nach der Wahl hob die Diskussion darüber an, welchen Anteil das am 18. Mai veröffentlichte und mittlerweile mehr als 14 Millionen Mal angeklickte Video „Die Zerstörung der CDU“ des deutschen YouTubers Rezo an diesem Absturz hatte.
Rezo attackierte in diesem 55-minütigen Video die Politik von CDU, CSU, aber auch der SPD am Beispiel Klima, Soziales und Sicherheit (auch die AfD bekam ihr Fett weg). In dem Video erwähnte Rezo zahlreiche Quellen, die er auch online gestellt hat. Kurz darauf schlossen sich mehr als 90 YouTuber Rezos Kritik an und riefen dazu auf, nicht CDU, CSU, SPD und AfD zu wählen.
Die CDU war „not amused“ über diese beiden Videos, Parteichefin Kramp-Karrenbauer beschwerte sich gar über diese Form der „Meinungsmache“ und fragte: „Was sind eigentlich Regeln aus dem analogen Bereich und welche Regeln gelten eigentlich für den digitalen Bereich?“ Das wiederum wurde ihr von vielen Seiten so ausgelegt, dass sie die Meinungsfreiheit einschränken wolle. Dagegen verwahrte sich Kramp-Karrenbauer wiederum:
Es ist absurd, mir zu unterstellen, Meinungsäußerungen regulieren zu wollen. Meinungsfreiheit ist hohes Gut in der Demokratie. Worüber wir aber sprechen müssen, sind Regeln, die im Wahlkampf gelten. #Rezo #Youtuber
— A. Kramp-Karrenbauer (@akk) 27. Mai 2019
Auf diese Äußerungen reagierte ein weiterer YouTuber mit der Online-Petition „Keine Zensur unserer Meinungsfreiheit, Frau Kramp-Karrenbauer!“
Cristina Helberg hat für Correctiv einen Blick auf die rechtliche Lage geworfen und kommt zu dem Schluss: „Rein rechtlich ist den Youtubern für ihre Wahlempfehlung nichts vorzuwerfen. Und auch die deutsche Presse könnte Wahlempfehlungen abgeben, wenn sie wollte.“
Sebastian Meineck fasst den Streit zwischen CDU und der Generation Social Media auf Vice gekonnt zusammen und stellt dabei die Frage, ob sich die CDU mit der Forderung nach einer Debatte über analoge und digitale Regeln nicht ein Eigentor geschossen hat.
Aus Angst vor Wahlmanipulation: Overblocking bei Twitter
Die EU hat seit 2018 eine Expertengruppe, die sich dem Kampf gegen Desinformation verschrieben hat. Im September 2018 legte die Gruppe einen Verhaltenskodex zur Bekämpfung von Desinformation vor. Dabei handelt es sich um eine freiwillige Selbstverpflichtung der sozialen Netzwerke, um Wahlmanipulation zu unterbinden. Twitter reagierte darauf mit einer internen „Richtlinie zur Integrität von Wahlen“, die allerdings zu einer recht willkürlich anmutenden (temporären) Sperrung von Accounts wie etwa der Berliner Staatssekretärin Sawsan Chebli oder des IT-Rechtsanwalts Thomas Stadler führte. Netzpolitik hat die Hintergründe dieses „Overblockings“ und der daraus folgenden Anhörung im Bundestag aufgeschrieben. Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang auch das Impulspapier „Politische Kommunikation im digitalen Raum“ des SPD-nahen Think Tanks D64, das unter anderem einen Verhaltenskodex für Parteien fordert.
EU-Wahl: Vier Prozent Falschnachrichten auf Twitter
Unabhängig vom Overblocking waren Falschnachrichten auf Twitter im Vorfeld der Europawahl kein so großes Problem. Zu diesem Schluss kommt das Oxford Internet Institute (Original, Zusammenfassung auf SPON), das im April Tweets mit Bezug zur Europawahl analysierte. Weniger als vier Prozent der geteilten Artikel waren „Junk News“, damit sind Seiten gemeint, die „ideologisch extreme, irreführende und faktisch inkorrekte Informationen“ verbreiten, z.B. die deutsche Website journalistenwatch.eu, die dem neu-rechten Lager zugerechnet wird.
Facebook im Clinch mit EU-Expertengruppe
Die oben erwähnte EU-Expertengruppe zum Kampf gegen Desinformation kam kurz vor der Europawahl in die Netzschlagzeilen: Die Gruppe diskutierte eine so genannte Sektorenuntersuchung, bei der untersucht werden würde, ob die großen Plattformen die Verbreitung von Desinformation begünstigen, um Geld damit zu verdienen. Wie Buzzfeed berichtet, reagierte der Facebook-Vertreter in der Gruppe allergisch auf diesen Vorschlag und drohte damit, dass Facebook seine finanzielle Unterstützung für journalistische und akademische Projekte einstellen würde (siehe dazu unseren Netzwelt-Rückblick April), wenn es zu einer solchen Untersuchung käme.
Desinformations-Netzwerke auf Facebook aktiv
Dass Desinformation auf Facebook nach wie vor ein großes Problem ist, ist eine der zentralen Erkenntnisse der Studie „Far Right Networks of Deception“ (Original; Zusammenfassung auf tagesschau.de). In dieser Studie macht die NGO Avaaz mehr als 500 Facebook-Seiten und Gruppen aus, die gegen die EU gerichtete Falschnachrichten teilten. Avaaz meldete diese Seiten an Facebook, das 77 dieser Seiten und Gruppen abschaltete. Zu diesem Desinformationsnetzwerk zählten auch zahlreiche Fake-Accounts, die Inhalte der AfD teilten.
AfD betreibt auf Twitter viele Fake-Accounts
Auch auf Twitter war die AfD im Vorfeld der Europawahl sehr aktiv. Wie Markus Reuter bei seiner Untersuchung der Twitter-Strategie der AfD auf netzpolitik.org herausgefunden hat, gab es unter anderem eine Reihe von Fake-Accounts, die Pro-AfD-Botschaften verteilten.
Wer sich in einer ruhigen Stunde mal grundsätzlich und gründlich mit dem Thema „Digitale Desinformation“ beschäftigen möchte, dem empfehle ich das gleichnamige Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung.
Urheberrechtsreform: Voss und Beckedahl trafen sich zum Streitgespräch
Um die benachbarten Themen Desinformation, Populismus, Hate Speech und Fake News ging es auch in vielen Sessions auf der Digitalkonferenz re:publica, darüber haben wir schon hier im Blog berichtet. Die Veranstaltung, für die es gefühlt die längste Schlange in der re:publica-Geschichte gegeben hat, möchte ich noch ergänzen: Das Streitgespräch zwischen dem CDU-Europaabgeordneten Axel Voss und Netzpolitik-Chefredakteur und re:publica Mitgründer Markus Beckedahl zum Dauerbrennerthema der letzten Monate: der EU-Urheberrechtsreform. Das ZDF hat eine 12minütige Zusammenfassung online, die komplette Version gibt’s auf der re:publica-Seite. Wer lieber eine Zusammenfassung lesen will, ist mit diesem SPON-Artikel gut bedient.
Online-Durchsuchung soll auch gegen Journalisten eingesetzt werden dürfen
Reformiert werden soll auch das deutsche Verfassungsschutzgesetz. Schon im März hatte Netzpolitik den Gesetzentwurf veröffentlicht, demzufolge Innenminister Seehofer plant, dem Verfassungsschutz mehr Überwachungs-Kompetenzen einzuräumen. Darunter ist das Recht zur Online-Durchsuchung, bei der Ermittlungsbehörden geheim in digitale Geräte eindringen und auf den Festplatten gespeicherte Informationen durchsuchen können. In der letzten Mai-Woche kochte das Thema hoch: Der Deutsche Journalistenverband und Reporter ohne Grenzen sehen das Redaktionsgeheimnis in Gefahr, diese und weitere Reaktionen hat Markus Beckedahl auf Netzpolitik zusammengetragen. Unter welchen Umständen Ermittler schon bisher Journalisten ausspähen dürfen und was sich durch das neue Gesetz konkret ändern würde, hat Ronen Steinke bei sueddeutsche.de aufgeschrieben.
Guardian schafft im Digitalgeschäft den Break Even
Journalismus steht nicht nur rechtlich unter Druck, sondern auch wirtschaftlich. Um so erfreulicher ist die Meldung des britischen Guardian, im Geschäftsjahr 2018/19 erstmals einen Gewinn gemacht zu haben: 800.000 Pfund mögen zwar nicht die Welt sein, stehen aber doch für eine Kehrtwende, denn in den Jahren zuvor machte der Guardian stets mehrere Millionen Miese, allein 57 Millionen Pfund in den Jahren 2015-2018. Der Guardian setzt viel stärker als andere Verlage auf das Digitalgeschäft, unter anderem mit seiner „Supporter-Strategie“: Die Leser werden am Ende fast jeden Artikels zu einer Spende aufgerufen. Die Nutzer können zwischen Einmalzahlung, monatlicher oder jährlicher Spende wählen, was dann im Endeffekt ein Abonnement ist. In einem Artikel für das Nieman Lab erklärt Joshua Benton, wie der Guardian den Turnaround geschafft hat und was andere Verlage vom digitalen Geschäftsmodell des Guardian lernen können.
Nicht ganz so transparent mit den eigenen Zahlen ist die Augsburger Allgemeine (AA), aber der Einblick, den Online-Chef Sascha Borowski in die digitalen Paid-Content-Erfahrungen bei seinem Arbeitgeber gewährt, ist sehr interessant. Dabei geht es viel um das so genannte Conversion Management, also die systematische Untersuchung, „mit welchen Artikeln wir bei loyalen Nutzern punkten und Abos generieren können“.
Tooltime!
– Wer mit Chrome surft, kann mit diesen 7-Tipps von Vice noch mehr aus seinem Browser herausholen, z.B Kürzel für Suchmaschinen anlegen
– 1Password ist einer der bekanntesten Passwort-Tresore. Für Journalisten ist die App dank einer Initiative des European Journalism Centers (EJC) jetzt kostenfrei.
– Das EJC steckt auch hinter der Datenjournalismus-Lernplattform datajournalism.com. Hier startet in den nächsten Tagen ein Kurs in der Programmiersprache R. Tutorin ist Marie-Louise Timcke, Leiterin des Interaktiv-Teams der Funke Mediengruppe.
– Flourish ist ein praktisches, browser-basiertes Programm zur Datenvisualisierung. Dataviz-Experte Alberto Cairo hat auf YouTube eine Playlist mit How-To-Videos zu Flourish veröffentlicht.
Damit beende ich den bislang längsten Netzwelt-Rückblick und freue mich auf ein Neues im Juni.
Bernd Oswald