Journalismus & Netz #24 | Musk und Kliemann, Social-Media-Guidelines, Chatkontrolle und der Digital News Report
Seit Angela die letzte Ausgabe dieser Kolumne veröffentlichte, ist ein Vierteljahr vergangen. Drei Monate sind in diesem Internet eine Ewigkeit, entsprechend haben wir viel nachzuholen: Ein weißer Mann hat definitiv zu viel Geld, einem anderen weißen Mann ist Geld offenbar doch nicht ganz so egal, große Medien erlassen Regeln für Twitter, die EU erlässt fragwürdige Regeln für Messenger, und der wichtigste Journalismus-Report zeigt die großen Herausforderungen für Verlage.
Elon Musk und Fynn Kliemann
Ist es unfair, den netten Sinnfluencer in einem Atemzug mit einem narzisstischen Troll zu nennen? Kann schon sein: Fynn Kliemann sah bis vor Kurzem wie ein rundum guter Typ aus, der einem höchstens ein wenig Angst machen konnte, weil er ständig alles richtig macht – und auch noch so viel davon (hier ein aktueller Erklär-Text zu Kliemann). Elon Musk ist ein misogyner Milliardär, der nach Herzenslust pöbelt und beleidigt, seine Angestellten einschüchtert und seine enorme Reichweite dazu nutzt, um Journalistinnen oder Whistleblower mundtot zu machen.
Es gibt aber einen Grund, beide gemeinsam zu behandeln: Musk und Kliemann zählten in den vergangenen Monaten zu den größten Gesprächsthemen im Netz, beide sind sehr aktiv und erfolgreich in sozialen Medien, und in beiden Fällen geht es um Geld. Der eine möchte mit Twitter eine der wichtigsten Kommunikationsplattformen kaufen, der andere soll die Öffentlichkeit über seine Maskendeals getäuscht und vielleicht sogar betrogen haben.
Musk hat sich in diesem Jahr zu einer Art Donald Trump mit mehr Haaren, weniger Rassismus und genauso vielen Twitter-Followern entwickelt. Eigentlich sollte man die unsäglichen Tweets dieser Typen ignorieren, aber irgendwie geht es dann doch nicht: Trump war nun mal einer der mächtigsten Männer der Welt, Musk ist einer der erfolgreichsten Unternehmer der Welt – und jetzt wird er vermutlich auch noch Eigentümer von Twitter.
Das monatelange Drama um den Vielleicht-jetzt-aber-ganz-sicher-oder-doch-nicht-Kauf nervt alle Beteiligten, einschließlich Musk und der Twitter-Angestellten. Fakt ist: Musk gehört Twitter noch nicht, Details der Finanzierung sind weiter unklar, und niemand weiß, ob er die Plattform wirklich noch übernehmen will. Der Kaufvertrag verpflichtet ihn, die restlichen Milliarden aufzutreiben, doch Elon wäre nicht Elon, wenn er sich an Verträge gebunden fühlte.
Derzeit läuft es aber darauf hinaus, dass der größte Twitter-Troll zum Twitter-Chef wird. Man könnte sagen: gut für Twitter. Musk baut die begehrtesten Autos der Welt, bietet Charterflüge ins All an und bringt mit seinen Satelliten das Internet zurück ins ukrainische Kriegsgebiet. Er mag den Humor eines pubertierenden Jugendlichen haben, aber er ist auch ein hochintelligentes Genie. Twitter dagegen kommt seit Jahren nicht richtig voran, während Instagram und TikTok davonziehen. Alle sprechen vom großen Potenzial, aber im Wesentlichen bleibt Twitter ein unerfülltes Versprechen. Also lasst Musk doch erst mal machen, vielleicht profitieren am Ende alle?
Schöne Vorstellung, leider unwahrscheinlich. Wenn Musk über Elektroautos spricht, wirkt er sicher und selbstbewusst. Wenn er von Social Media redet, dann macht er mit jedem Satz deutlich, dass er keine Ahnung hat, was es bedeutet, Twitter zu führen. Musk möchte Twitter in einen Marktplatz der Ideen verwandeln, auf dem alle Menschen fast alles sagen und hart, aber sachlich diskutieren können. Doch wenn er auch nur einen Bruchteil der Dinge verwirklicht, die er in den vergangenen Wochen angekündigt hat, wird aus Twitter kein sozialer Ort, sondern eine asoziale Bühne, auf der gehört wird, wer am lautesten schreit.
Musk nennt sein eigenes Verständnis von Meinungsfreiheit „absolutistisch“ und meint damit in erster Linie, dass ihm Twitter für jede seiner Äußerungen ein Megafon unter die Nase halten soll, damit er der Welt mitteilen kann, was auch immer ihm beliebt. Dabei übersieht er, dass absolute Redefreiheit fast immer in grenzenlosen Hass mündet. Soziale Netzwerke funktionieren eben nicht wie Stadtplätze, auf denen das normale Zivil- und Strafrecht gilt. Dort darf man Unsinn über das Coronavirus erzählen oder behaupten, dass eine Wahl manipuliert wurde. Viele Belästigungen und Beleidigungen sind nicht illegal, auch Spam, manipulierte Fotos und Darstellungen von Gewalt verstoßen nicht unbedingt gegen Gesetze.
Wenn es nach Musk geht, soll Twitter nur Inhalte löschen, die lokale Gesetze verbieten. Doch für zivilisierte Online-Diskussionen braucht es Gemeinschaftsstandards, die darüber hinausgehen. Gab, Parler, Gettr oder Truth Social zeigen, dass die vermeintliche Verheißung radikaler Redefreiheit meist nur jene anzieht, die hemmungslos pöbeln wollen. Selbst diese selbsterklärten Free-Speech-Plattformen haben mittlerweile Community Standards eingeführt, weil sie eingesehen haben, dass es ohne nicht geht.
Immerhin: Trotz allem Geld und aller Genialität gelten auch für Elon Musk ganz irdische Gesetze. Ein Gericht hat entschieden, dass er seine Tweets weiter von Tesla-Juristen freigeben lassen muss, wenn er darin sein Unternehmen erwähnt – selbst dann, wenn ihm Twitter gehört.
Und wie kommen wir jetzt wieder zu Kliemann? Auch der könnte bald Ärger mit der Justiz haben: Die Staatsanwaltschaft Stade ermittelt wegen des Verdachts auf Betrug im Zusammenhang mit Maskengeschäften. Die Recherche des ZDF Magazin Royal, die alles auslöste, wurde allein auf YouTube mehr als vier Millionen Mal abgerufen, die Vorwürfe dürften bekannt sein und bedürfen keiner Zusammenfassung mehr.
Das Thema ist aber trotzdem aktuell: Kliemann hat sich in einer Instagram-Story zu Wort gemeldet und schaltet dort in den Angriffsmodus. Er zieht über wildgewordene Reporter und die „woke linke Szene“ her. Man wollte ihn zerstören, weil er „anders“ sei. Und dann gibt es auch noch seltsame Sätze über die öffentlich-rechtlichen Medien: „Ihr habt mich mit öffentlichen Geldern groß gemacht, dann hab ich nicht gespurt, und mit genau den gleichen Geldern soll ich jetzt zerstört werden.“
Das klingt ganz anders als in seinen ersten, besonnenen und defensiven Erklärungen. Aus Reue wird Rant, aus Selbstkritik werden Vorwürfe. Mit einem Teil davon mag er recht haben, nicht immer war die Berichterstattung fair, nicht jede Kritik war berechtigt. Er übersieht aber, dass sein angeblich „anders“ sein nie das Problem war – sondern die Tatsache, dass er sich als idealistischer, altruistischer Macher inszenierte, während er zumindest einige fragwürdige Geschäfte machte.
Du willst mehr dazu wissen und dir selbst eine Meinung bilden? Rezo hat die aktuellen Entwicklungen in einem 20-minütigen Video zusammengefasst und richtig gut eingeordnet. Neben der Guck- auch noch eine Hör- und eine Leseempfehlung: „Fynn Kliemann – vom Influencer zum Schwurbler?„, fragt der Stimmenfang-Podcast des Spiegels, dessen Reporter den Fall in den vergangenen Wochen intensiv begleitet haben. Und wie zu fast allen Medienthemen hat Samira El Ouassil auch zu Kliemann etwas Kluges zu sagen: „Aus dem Kliemannsland wird die Neverwokeranch„.
Neue Regeln für Twitter und Messenger
Und noch mal zwei Themen unter einer Überschrift – diesmal aber eindeutig und ausdrücklich ohne inhaltliche Gemeinsamkeiten. Die Vorgaben, die mehrere angelsächsische Medien ihren Mitarbeiterïnnen für deren Verhalten in sozialen Medien auferlegen, haben rein gar nichts mit der anlasslosen Massenüberwachung zu tun, mit der die EU-Kommission gegen die Verbreitung von Child Sexual Abuse Material (CSAM) vorgehen möchte. Die Twitter-Regeln der Verlage sind zumindest diskutabel, die Messenger-Regeln der EU sind gefährlich.
In den vergangenen Monaten haben unter anderem der Guardian und die New York Times ihre Social-Media Guidelines verschärft. Diese Richtlinien sollen allen Angestellten und freien Mitarbeiterïnnen der Times helfen, die Plattform so zu nutzen, dass es weder dem Verlag noch ihrer Arbeit schadet.
Wer für die Times arbeitet, wurde bislang offensiv ermutigt, Twitter zu nutzen. Das hat sich geändert, die neuen Regeln bezeichnen eine Social-Media-Präsenz ausdrücklich als optional. Die Times hält die Plattform zwar für nützlich, befürchtet aber auch, dass sie ein Zeitfresser sein und die Angestellten von ihrer eigentlich Aufgabe ablenken kann.
„Wir sagen ihnen nicht, dass sie damit aufhören sollen, sondern nur, dass es sinnvoll sein könnte, ein bisschen weniger zu tun“, sagt der neue Chefredakteur Joe Kahn in einem aktuellen Interview mit dem Spiegel. Wer sich zu sehr mit dem winzigen Twitter-Publikum beschäftige, verliere irgendwann seinen journalistischen Instinkt. „Wenn man sich auf diese Kämpfe einlässt, gerät man in Situationen, wie bei der Washington Post, wo sich die eigenen Reporter gegenseitig auf Twitter angreifen. Das ist schlecht für die Arbeitsplatzkultur. Wir betreiben keine ‚Ein-Verstoß-und-du-bist-raus‘-Politik, aber wir geben denjenigen, die unserer Meinung nach die Grenze überschreiten, ein klares Feedback. Wir möchten, dass sie ihre Zeit überwiegend auf Journalismus verwenden. Wir wollen nicht, dass sie sich in sinnlose Kämpfe mit Kritikern oder Trollen auf Twitter verstricken.“
Damit spricht Kahn einen weiteren Grund für die neue Twitter-Zurückhaltung an: In den vergangenen Jahren zofften sich US-Journalistïnnen dort immer wieder öffentlich und gaben dabei nicht immer ein gutes Bild ab. In einigen Fällen wurden sogar Kündigungen ausgesprochen oder Jobangebote zurückgezogen. Verständlicherweise möchten Medien wie die Times und der Guardian solche Unstimmigkeiten lieber intern halten.
In mehreren deutschen Medienhäusern haben diese Social-Media-Guidelines Diskussionen ausgelöst. Manche fragen sich: Brauchen wir auch ein solches Regelwerk? Manche Sender und Verlage, darunter das ZDF, der WDR und Axel Springer, haben bereits ähnliche Richtlinien formuliert, die meisten verzichten bislang gänzlich darauf. Noch.
Eine völlig andere Art von Regeln plant die EU-Kommission. Sie schlägt ein Gesetz vor, um eines der fürchterlichsten Verbrechen zu bekämpfen, zu dem Menschen imstande sind. In sozialen Medien finden sich abscheuliche Hasskommentare, im Darknet werden Waffen gehandelt, Extremisten posaunen ihre Propaganda über digitale Kanäle in die Welt. Doch nirgends ist das Netz dunkler als in den Foren, Messengern und Cloud-Speichern, in denen Kinderschänder Fotos und Videos tauschen.
Das Ausmaß der Taten ist so gigantisch, wie sie bestialisch sind. Allein im vergangenen Jahr sollen 85 Millionen Fotos und Videos entdeckt worden sein, die missbrauchte Kinder zeigen. „Wir scheitern daran, Kinder zu schützen“, sagt Innenkommissarin Ylva Johansson, und sie hat recht. Wer die erschütternden Recherchen der New York Times oder des Spiegels liest, kann nur zu einem Schluss kommen: Diese Verbrechen müssen härter bekämpft werden, die Täter dürfen nicht straflos davonkommen.
Doch der Vorstoß, den Johansson „hart, beispiellos und bahnbrechend“ nennt, ist genau das: ein beispielloser Eingriff in die Grundrechte, ein bahnbrechender Schritt auf dem Weg zur anlasslosen Massenüberwachung. Offenbar heiligt für die Kommission der Zweck jedes Mittel. Sollte der Entwurf zum Gesetz werden, etabliert die EU ein Überwachungssystem, wie es bislang kein demokratischer Staat gesehen hat.
Der Gesetzentwurf ist unvereinbar mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, mit der viele Messenger Nachrichteninhalte vor Kriminellen oder Geheimdiensten schützen. Die Kommission mag beteuern, dass ihr Verschlüsselung am Herzen liege und alle Eingriffe minimal und gezielt sein müssten. Dennoch wälzt sie das Problem auf die Unternehmen ab, die bitteschön die Quadratur des Kreises lösen sollen. Es gibt keine Hintertür, die ausschließlich dafür genutzt werden kann, CSAM aufzuspüren. Wer Verschlüsselung aufbricht, setzt die Privatsphäre aller Menschen aufs Spiel. Die Vergangenheit zeigt, dass jede Lücke früher oder später missbraucht wird – sei es von Behörden, Geheimdiensten oder kriminellen Hackern.
Die Bundesregierung scheint das ähnlich zu sehen: „Ich bin strikt gegen die Chatkontrolle“, sagte Bundesverkehrs- und Digitalminister Volker Wissing auf der Republica. „Ich sehe die Begeisterung mancher Nachbarstaaten, die das ganz toll finden, aber wir werden uns mit allen Argumenten dagegen wehren.“ Deutschland als Verteidiger der Grundrechte auf EU-Ebene – das gab es auch noch nicht so oft.
Neun Erkenntnisse aus dem Reuters Digital News Report
Jedes Jahr im Juni veröffentlicht das Reuters Institute der Universität Oxford den Digital News Report, eine der umfassendsten und methodisch besten Untersuchungen zur Nutzung klassischer und sozialer Medien. Für die Studie wurden dieses Jahr mehr als 93.000 volljährige Menschen in 46 Ländern befragt.
Die Ergebnisse sprengen den Umfang dieser Kolumne, deshalb verweise ich auf eine frei lesbare Ausgabe des Social Media Watchblog. Dort habe ich zusammen mit Martin Fehrensen die aus unserer Sicht neun wichtigsten Erkenntnisse für Deutschland zusammengefasst. Die Details zu den folgenden neun Punkten kannst du hier nachlesen.
- Mehr Menschen verzichten bewusst auf Nachrichten, das Grundinteresse bleibt vergleichsweise hoch
- Die Zahlungsbereitschaft steigt, Finanzierung bleibt aber eine große Herausforderung
- Online-News überholen TV-Nachrichten, Print lebt (noch)
- Menschen lesen Nachrichten lieber, als sie anzuschauen
- Das Vertrauen in Medien sinkt leicht, bei Jüngeren drastisch
- Medienmarken sind wichtiger als einzelne Journalistïnnen
- Deutschland ist TikTok-Entwicklungsland, Facebook hält sich hartnäckig
- Jüngere nutzen Newsletter vollkommen anders als Ältere
- Der Ukraine-Krieg lässt deutlich mehr Menschen Nachrichten meiden